Seit 2005 bin ich selbstständig. Ich habe es nur ganz wenige Male bereut. Etwa, wenn ich nicht mit auf den St. Martins Umzug mit unserer Tochter konnte, weil wir eine größere Gesellschaft im Refugio hatten. Oder wieder mal nicht schlafen konnte, weil dass Dinner für den nächsten Whisky-Abend noch nicht stand oder ich schlicht und einfach mich Nachts fast auf allen Vieren zur Toilette quälte, weil meine Füße mich nach 18 Stunden-Schichten kaum noch tragen konnten.
Aber ob es meine Füsse, mein Rücken, mein Kopf war, der mir signalisierte nicht mehr zu können, ich habe immer weiter gemacht. Im Dienste unseres jüngsten Babies: das Refugio. Und für unsere tollen Gäste, für das gute Essen, für tolle Weine…. es gab soviel Gründe immer und immer weiter zu machen….
Dann kam das Italienisches Fest im Mai 2017. Großkampftage für unser kleines Bistro! Das Fest begann Mittwochs Abends, Donnerstags war Feiertag und das Refugio geschlossen. Wir genossen den freien Tag mit dem Team bei einem gemeinsamen Essen im Santorini auf der Massener Straße. Danach sind wir mit einigen noch auf das italienische Fest marschiert. Hier trafen ich meinen Papa und seine Anke…fröhlich gesellten wir uns dazu und genossen den Nachmittag bei toller Musik und schönem Wein. Es gibt wenig Momente, wo ich so unbeschwert bin, die kleine Shelia, die Tochter einer Mitarbeiterin, die mitgekommen war, hat mir einfach alle negativen Gedanken aus dem Hirn gelacht und es war wunderbar. Bis Papa zur Toilette musste…. Ich habe gesehen, wie er aufgestanden ist, mit schmerzerfülltem Gesicht, leicht humpelnd…. erschrocken wie ich war fragte ich Anke, was denn los sei.
Unser Küchenbondrucker zum itlalienischem Fest… Die Bestellungen kommen stellenweise im 10-Sekundentakt rein. |
Seit Jahren nur mit dem Laden beschäftigt, habe ich einfach die Lieben um mich herum nicht mehr „gesehen“!. Und auf einmal spulte ein Film vor meinen Augen ab: ich, gerade mal so groß wie zwei gestapelte Bierkästen, auf den Schultern meines Vaters – jedes Borussen-Tor jubelnd gefeiert! Als ich älter war, verging kein Samstag ohne die Konferenz-Schaltung. Nie waren die Samstage schöner als damals! Dann studierte ich in Dortmund. Und was ließen Papa und ich es krachen! – Wieviel Spiele wir gemeinsam schauten, Meisterschaftsfeier, Champions League, DfB Pokal! Wir waren zusammen! Einzelheiten möchte ich Euch ersparen – aber ich habe soviel schöne Erinnerungen an diese Zeit, da werde ich noch lange von zehren können….
Und auf einmal – 2005 war alles vorbei. Das Refugio ist Samstags bis 16 Uhr geöffnet. Oft haben wir ab 19 Uhr Veranstaltungen und ich muss viel vorbereiten. Ich habe meine Borussia einfach „vergessen“. Ich habe sie beiseite geschoben. Europameisterschaft, Sommermärchen, dass alles hat für uns leider nicht stattgefunden. Wie denn auch? Wir hatten ein Geschäft zu führen. Verantwortung, Kundenwünsche… bevor ich mir jedesmal nur das letzte Drittel der zweiten Halbzeit anschaue, schaue ich einfach ganz weg. So ging das bei mir. Bis zu diesem Tag im Mai 2017. Da habe ich meinen Papa gesehen. Der so schmerzerfüllt aufstand. Und vor mir waren auf einmal diese Bilder: Papa und ich hüpfend, springend, jubelnd….! Auf was habe ich verdammt noch mal all‘ die Jahre verzichtet? Wieviel Jahre haben wir, um zu genießen, zu feiern, zu leben?
In dem Moment, in dem ich auf den Rücken meines humpelnden Vaters geschaut habe, war mir klar, das nächste Mal, wenn ich drauf schauen will, möchte ich das Trikot sehen! Und ich will mit ihm die Borussia kämpfen, spielen und siegen sehen! Entgegen aller logischer Gedanken, hat mein Herz mir gesagt, dass ich mit Papa das Spiel der Spiele sehen muss – aber wie sollte das bei ausgebuchtem Haus funktionieren?
Anke, Papas Lebensgefährtin und Papa |
Papa und Anke sind wenige Stunden später aufgebrochen nach Berlin. Ich bin mit Christian und einem Gefühl der Hilflosigkeit nach Hause getappert. Mit den Beiden zu fahren war undenkbar! Unser Refugio war Freitag bis auf den letzten Platz ausgebucht. Meine Hilfe war unentbehrlich. Mit dem Auto selbst nach Berlin zu fahren, hatte ich ausgeschlossen, nicht nachdem ich mindestens 12 Stunden arbeiten musste. Zugverbindungen waren ausgebucht. Ebenso wie Fanbusse. Was sollte ich tun? Ich MUSSTE nach Berlin zu meinem Vater!
Während Christian die Augen verdrehte und ins Bett verschwand, hat mich der Wille nach Berlin zu reisen nicht losgelassen. Auf facebook postete ich in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, kurz vor 2 Uhr morgens folgenden Text:
WICHTIG: Wer meiner facebook-Freunde hat am Samstag morgen noch einen Platz im Auto nach Berlin frei? Ich muss dorthin! Gute Gründe mich mitzunehmen:
– Am Freitag muss ich sehr lange arbeiten, auf der Fahrt werde ich nur schlafen!
– Sollte ich trotzdem wach werden, machen mir derbe Männerwitze nichts aus, ich bin so groß geworden!
– ich bin am Borsigplatz geboren (zählt doppelt!)
– ich kann so richtig geilen Kartoffelsalat! So einen, der Euch umhauen wird! Den bringe ich mit – als Fahrtproviant!
Aber das Wichtigste: mein Vater ist in Berlin! Und genau in seinen Armen möchte ich liegen, wenn wir den Sieg nach Hause bringen!
Selbstverständlich beteilige ich mich an den Fahrtkosten. Sollten Frankfurter Freunde anwesend sein, lasse ich mein Trikot auf der Fahrt im Rucksack!
Zu dem Text postete ich das Bild unseres Sanchos, in der Hoffnung, dass es der Post häufiger geliked wird – Hunde gehen doch immer… |
Ich schrieb erst den Text. Dann habe ich überlegt, was ich unserer Tochter sagen sollte, warum Mama mit evtl. wildfremden Menschen urplötzlich nach Berlin fährt. Und ich habe weiter überlegt: was ist, wenn sich vielleicht so Ultrafans melden, die gegen alles und nix wettern, oder wenn der Fahrer mich direkt mit einem Fahrerbier begrüßt und mit etlichen Promille über die Autobahn schleift? Vielleicht gerate ich an einen Serienkiller, oder man raubt mir Geld und Unschuld und wirft mich bei fahrendem Gefährt aus der rostigen Beifahrertür? Mir sind 1000 und aber 1000 „Erwachsenen-Mama-was-kann-alles-passieren-Gedanken“ – gekommen und ich war schweißgebadet. Und dann habe ich an die Situation gedacht, in der ich mit Papa nach dem Gewinn des XY an der Kuckelke stand und die Straßenbahn kam: „Papa – das ist die falsche!“ „Scheiß-egal-scheiß-egal-scheiß-egal…“ Wir sind eingestiegen! Ruckelnd, rumpelnd aneinandergelehnt schweigend durch die Vororte gefahren. Irgendwann gelangten wir tatsächlich an eine Haltestelle, die in der Nähe meiner Wohnung lag. Total ko., müde und so unendlich glücklich sind wir eingeschlafen und der Tag endete wie im Paradies!
Papa, rechts im Bild mit der Rückennummer 48 😉 |
Nun, was hatte das mit meiner Tochter zu tun? Was sollte ich ihr sagen wenn ich einem Triebtäter zum Opfer fallen würde? Ich sag es Euch: „Scheiß-egal-scheiß-egal-scheiß-egal….“ Nichts anderes habe ich in diesem Moment auf meinem Barhocker in unserer dunklen Wohnung gedacht! Ich habe einfach auf den Button fürs posten gedrückt und habe „Scheiß-egal“ gedacht. Vielleicht das erste Mal seit 27 Jahren wieder!
Danach bin ich vollkommen k.o. und vor dem eigenen Mut kapitulierend ins Bett gefallen.
Gegen 8:45 Uhr klingelte mein Handy: „Hallo, Du willst nach Berlin?“ Das erste was mir aus tiefsten Schlaf wie ein Elektroschock in mein bis dahin schlummerndes Gehirn schoß war: „ein Triebtäter!“- „Hallo?“ – Erleichterung machte sich in mir breit – die Stimme war weiblich! „Ja, gerne, also unbedingt. Also ich muss nach Berlin“ – „Mein Mann fährt – mit meinem Sohn!“ Das Leben war herrlich! Keine gröhlenden Fans, die auf dem Weg schon die Dosen knallen ließen und sich bis Berlin diese dubiose Mitfahrerin immer jünger tranken und erst über den Kartoffelsalat, danach dann über sie herfielen! Ein Vater mit seinem Sohn! Es gibt doch einen Fußballgott!
Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen, früh um 6 an der Autobahnauffahrt A1!
An diesem Freitag hatte ich zwar nicht lange geschlafen, war aber vollkommen wach, als ich versuchte mich in mein Trikot zu quetschen. Oh – es muss in all‘ den Jahren tatsächlich geschrumpft sein. Klassisches Schrankschrumpfen – passiert! Ich hatte ja noch 20 Stunden Zeit!
Neben unserem Laden haben wir unseren Leiendecker. Dort wurde sich neu eingedeckt, der Tag schnell weg-gearbeitet und Abends der Rucksack gepackt! Und zack – pünktlich viertel vor 6 Stand ich im Glanze der Morgensonne (grins) an der Autobahnauffahrt! Eigentlich dachte ich, die Straßen wären leer. LEUTE: in den 15 Warteminuten sind sage und schreibe 11 Autos laut hupend, geschmückt mit Fahnen und Bändern unseres Vereins Richtung Berlin an mir vorbeigefahren! Ich habe mehrfach dabei erwischt, wie ich alleine dort stand und eine Laola nach der anderen absolvierte!
Berlin, Berlin – wir fahren nach Berlin!
Meine tollen Fahrer kamen pünktlich und waren super nett (noch einmal 10000herzlichsten Dank). Sie brachten mich sogar direkt zum Hotel – an welchem Papa und Anke mich schon im Trikot auf dem Balkon empfingen! Kurz einen Kaffee genossen und haben wir uns alsbald in die Straßenbahn geworfen! Es begann ein wundervoller Tag! Berlin in schwarz-gelb – so etwas habe ich wirklich noch nie gesehen. Karten fürs Stadion zu bekommen war unmöglich – wir kriegten noch nicht einmal Karten für eines der Fanschiffe, die über die Spree fuhren – geschweige denn fürs Spiel. Am Ende schauten wir in einer klasse Kneipe mit ca. 50-60 anderen Borussen! Dortmund hat gewonnen und ich habe mit Papa im Arm gejubelt! Ich liebe es, wenn ein Plan gelingt… 😉
Die Rückfahrt am nächsten Tag wäre unter normalen Umständen der Supergau gewesen. Sage und schreibe 9 Stunden haben wir gebraucht!
Die Autobahn war dicht! Den Borussen die mit uns im Stau standen und mir war das egal! Es wurden Fahnen ausgepackt und auf der Rastplätzen gehüpft: Scheiß-egal, scheiß-egal, scheiß-egal….
Alles gut!